Mythen im Fitness

Fitnessmythen

von David Klinkhammer

„Der Menschheit ist es gelungen, den Mythos durch die Realität zu ersetzen“ (Walter Fürst).

Im Informationszeitalter ist es einfach, Wissen zu verbreiten. Eine Story, ein Feed, ein Post plus die richtigen Hashtags und die ganze Welt nimmt teil an unseren Gedanken. Relevante Informationen schnappen wir auf und teilen diese mit unseren Artgenossen. Über die Quellen und den Wahrheitsgehalt machen wir uns hier weniger Gedanken. Warum auch: je plakativer, desto mehr Aufmerksamkeit wird erregt. Kein Wunder, dass Verschwörungstheoretiker, Fake News oder urbane Mythen seit Jahren einen regelrechten Boom erfahren. So sind es insbesondere Urban Legends, die Teil von täglichen Erzählungen geworden sind. Das Folgende kommt einem möglicherweise bekannt vor:

Da ist beispielsweise die Geschichte von einem Mann auf einer Geschäftsreise, der von einer Frau verführt wurde, am nächsten Morgen aufwachte und bemerkte, dass eine seiner Nieren mittels Operation entfernt wurde.

Oder, dass in Spitzenrestaurants das Probieren vom Teller des Partners bestraft wird, indem ein Zettel mit dem Text „Bitte kommen Sie nicht wieder!“ überreicht wird.

So unterschiedlich diese Geschichten auch sein mögen, sie haben immer etwas gemeinsam: Die Quellen lassen sich nicht genau zurückverfolgen. Dies liegt unter anderem daran, dass Protagonisten moderner Sagen meist namentlich nicht bekannt sind. Um dem Gesagten etwas Glaubhaftigkeit zu verleihen, hat man derlei skurrile Geschichten vom „Freund eines Bekannten“.

Doch steckt hinter jedem Mythos nicht auch ein Fünkchen Wahrheit? Möglicherweise, aber wenn, dann ist diese stark verzerrt. Möglicherweise werden aus Sachverhalten falsche Schlüsse gezogen und dann verbreitet.  Bei der Verbreitung von Gerüchten von Mensch zu Mensch können wesentliche Aussagen vergessen oder falsch interpretiert werden. Der Spaßfaktor am Spiel „stille Post“, bei dem Wort oder Satz dem Nebenmann ins Ohr geflüstert werden, liegt eben darin, dass am Ende die ursprüngliche Aussage in keiner Weise mehr erkennbar ist. Missverstandene und/oder weitverbreitete Sachverhalte, können mitunter gefährlich werden, insbesondere wenn diese mit dem Körper selbst zu tun haben. Darüber hinaus wird die Frustgrenze extrem strapaziert, wenn sich aufgrund der Befolgung von Mythen keine Erfolge einstellen.

Zusammen mit unserem Dozenten Matthias Keutmann haben wir in unserer neusten Podcastfolge Bizeps & Bananenbrot einige Fitnessmythen auf ihren Wahrheitsgehalt beleuchtet und versucht, die Quellen der Gerüchte zurück zu verfolgen.

 

Mythos 1: Wer nur ausreichend Sit-ups durchführt bekommt ein Six-Pack

Es könnte so schön sein. Wir pflegen in unseren Alltag einfach mehrere Sequenzen Sit-ups ein und unser Bauch wird mit sechs ästhetischen Muskelhöckern ausgestattet. In diesem Mythos stecken gleich mehrere Unwahrheiten:

Der Sit-up als DIE Bauchmuskelübung

 Das Annähern von Ursprung und Ansatz eines Muskels sorgt für die Bewegung unserer Gelenke. Der gerade Bauchmuskel ist für eine Einrollung der Wirbelgelenke verantwortlich. Doch selbst, wenn wir jedes einzelne Wirbelgelenk einrollen würden, würden wir nicht aufrecht sitzen. Hierfür ist die Hüftbeugung durch das Hüftgelenk verantwortlich. Die korrespondierenden Muskeln sind die Hüftbeuger (M. illiopsoas und M. rectus femoris). Weswegen sich der hauptsächliche Trainingseffekt auf diese Muskulatur bezieht. Effektiver für die gerade Bauchmuskulatur wären daher Crunches, da hier die Einrollung der einzelnen Wirbel im Fokus steht.

Bauchübungen führen zum Sixpack

 Das „Sixpack“ zeichnet sich horizontal durch Zwischensehnen und vertikal durch die Linea Alba ab, die insbesondere dem geraden Bauchmuskel (M. rectus abdominis) seine charakteristische Form gibt. Ein Six-Pack ist bei JEDEM Menschen zu finden. Der Muskel sitzt unter dem Unterhautfettgewebe und wird daher erst sichtbar, wenn dieses entsprechend gering ausgeprägt ist. Demnach wäre die Reduktion des Fettgewebes die korrekte Strategie für die Sichtbarkeit.

Gezielter Fettverlust an bestimmten Körperregionen

 Mit bestimmten Trainingsinterventionen einen punktuellen Bauchfettverlust anzustreben klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar, ist so leider aber nicht umsetzbar. Ein Gewichtsverlust geht mit einem Kaloriendefizit einher. Um dieses Defizit zu kompensieren, zapft der Körper Energiereserven an. Wir haben jedoch keinen Einfluss darauf, welche Reserven das sind.

Sit-ups und Co. kräftigen den Bauch

 Dieses Gerücht kann alleine schon dadurch entkräftet werden, wenn man die Funktionsweise der Bauchmuskulatur betrachtet. Die Hauptaufgabe der Bauchmuskeln ist der Schutz der Eingeweide und die Stabilisierung des Rumpfs und damit einhergehend des menschlichen Gerüsts, der Wirbelsäule. Insbesondere freie Übungen wie Kniebeugen, Kreuzheben und Co. werden dieser Funktion gerecht und sollten für ein Kräftigungstraining der Bauchmuskulatur nicht außer Acht gelassen werden. 

 

Mythos 2: Training nach einer nächtlichen Fastenphase steigert die Fettverbrennung und führt zur Körperfettreduktion

Der Verlust von Körperfett scheint, wenn man sich die Vielfalt der Mythen anschaut, ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein. An diesem Beispiel ist erkennbar, dass wieder kausale Zusammenhänge zwischen mehreren Aussagen getroffen werden.

Die Fettverbrennung ist bei sportlichen Tätigkeiten im nüchternen Zustand erhöht.

Korrekt, oder besser gesagt, der Fettstoffwechsel ist erhöht: Kohlenhydrate und Fette sind wichtige Energiequellen bei Stoffwechselprozessen. Im nüchternen Zustand wird der Fettstoffwechsel durch das Hormon Katecholamin stimuliert und Insulin gleichzeitig gehemmt. Triglycerid-Reserven (Nahrungsfette) und freie verfügbare Fettsäuren stehen als Brennstoffquelle zur Verfügung. Es wurde nachgewiesen, dass während einer einstündigen Trainingseinheit mit mäßiger Intensität, 40 % des Energieverbrauchs auf die Fettoxidation entfiel, wenn der Trainierende nüchtern war. Nach dem Verzehr eines Kohlenhydratfrühstücks wurden nur 20 % des Energieverbrauchs durch Fettverbrennung gedeckt. Abgesehen von der Ernährung hängt die Nutzung von Energiesubstraten während des Trainings von Faktoren wie Intensität, Dauer und Niveau des Trainings ab. Es hat sich gezeigt, dass die Fettoxidation - im Gegensatz zur Verwendung von Kohlenhydraten als Substrat - bei niedrigen bis mittleren Trainingsintensitäten (> 60-65 % VO2max*) tendenziell höher ist, bei einer Intensität von > 75 % VO2max jedoch wahrscheinlich abnimmt. Der Grund hierfür ist, dass ausreichend Sauerstoff für den Fett-Verbrennungsprozess vorhanden sein muss. Bei einer Sauerstoffschuld greift der Körper vermehrt auf glykogene Energiequellen zurück.

Körperfettreduktion durch Fettstoffwechseltraining

So einfach ist es leider nicht. Der kalorische Umsatz beim Ausdauertraining hängt nicht vom Ernährungszustand (nüchtern oder gefüttert) ab, sondern von der Intensität, Dauer und den anthropometrischen Daten. Um Körperfett zu reduzieren, ist, wie oben bereits beschrieben, einzig und alleine ein kalorisches Defizit notwendig. Fettstoffwechseltraining ist für einen Langstreckenläufer eine geeignete Trainingsform um seine Energiebereitstellung zu ökonomisieren.

 

Mythos 3: In der Bewegungsdurchführung dürfen die Knie nicht über die Kniespitzen ragen

Viele Mythen ranken sich um die Durchführung von Kraftübungen. Im Fokus einer Vielzahl von Halbwahrheiten steht hier vor allem die Kniebeuge (Squat).

Dieses Gerücht hält sich hartnäckig im Fitnessuniversum. Wenn man nach dem Grund fragt, hört man in der Regel Aussagen, wie „zu hohe Belastung für das Knie“ oder „erhöhte Verletzungsgefahr“. Schaut man sich die Biomechanik der Kniebeuge an, verteilt sich der Körperschwerpunkt in der Beugung auf den Mittelfuß. Verlagere ich das Gewicht nach vorne oder hinten, verliere ich das Gleichgewicht. Ob die Knie vor die Fußspitze driften, hängt also vor allem von anthropometrischen Daten ab. Bei kurzen Beinen und langem Oberkörper gelingt es in der Tat die Knie vor den Fußspitzen zu halten. Andersherum ist das Vorschieben der Knie über die Fußspitzen bei Personen mit langen Beinen zwingend notwendig um den Körperschwerpunkt über dem Mittelfuß zu halten. Ein erzwungener reduzierter Knievorschub verringert das Drehmoment (Belastung) im Knie um 22 %. Gleichzeitig wird jedoch das Drehmoment im Hüft- und Iliosakralgelenk, sowie der Lendenwirbelsäule um das 1000-fache erhöht, also kein lohnenswerter Kompromiss.

 

Mythos 4: Tiefe Kniebeugen sind schlecht für die Knie

Zurück zur Bewegungsmechanik der Kniebeuge. Hüft-, Knie- und Sprunggelenk weisen theoretisch eine solch hohe Bewegungsweite auf, dass es problemlos möglich ist, eine Hockhaltung einzunehmen, bei der das Gesäß den Boden berührt. In anderen Kulturkreisen ist die tiefe Hocke die bevorzugte Art und Weise zu sitzen. In unseren westlichen Breiten wurde diese Fähigkeit nach dem Prinzip „use it or lose it“ schlichtweg verlernt.  Die tiefe Hocke wurde gegen bequeme Sitzmöbel eingetauscht. Ironischerweise treten Gelenkserkrankungen in den unteren Extremitäten eher in den Industrienationen auf, als in den Nationen, wo die tiefe Hocke Teil des täglich Lebens ist. Der Rückschluss ist erlaubt, dass die Prävalenz der Gelenkserkrankungen darauf zurückzuführen ist, dass wir auf eine Hockhaltung verzichten. Der Mythos wäre bereits jetzt schon entkräftet, aber auch weitere Beobachtungen bestätigen es.

Basierend auf biomechanischen Berechnungen und Messungen an Leichenkniegelenken sind die höchsten retropatellaren (lat. retro "hinter" und Patella "Kniescheibe") Druckkräfte und Spannungen bei 90° zu beobachten. Mit stetig wachsender Beugung erhöht sich die Auflagefläche zwischen Oberschenkel und Kniescheibe. Die hier wirkenden Kräfte verteilen sich auf eine größere Fläche und nehmen mit steigender Tiefe nicht zu. Dieses Phänomen wird als „wrapping Effect“ bezeichnet.

Von der Hand zu weisen ist dagegen nicht, dass die Kniebeuge eine hochkomplexe Übung ist, die bei fehlerhafter Durchführung zu Verletzungen im Bewegungsapparat führen kann. Das Erlernen einer korrekten Durchführung ist demnach fundamental. Das gilt nicht nur für Fitnessfanatiker, sondern auch für unser aller Alltag. Ohne dieses kniedominante Bewegungsmuster wäre das Anheben von Gegenständen vom Boden erheblich schwieriger.

In unserem Mythen-Check konnten wir aufzeigen, dass sich Gerüchte, wie ein Lauffeuer verbreiten und so schnell zu Gesetzmäßigkeiten in der Fitnesswelt werden können. Der Ursprung sind falsche Rückschlüsse und Missverständnisse oder gar veraltete Ansätze. Oftmals sind Wahrheiten unangenehm, haben aber das Potential, im Trainingsprozess Korrekturen vorzunehmen, die zu einer schnelleren Umsetzung der persönlichen Ziele führen können.

 

  David Klinkhammer

Über David Klinkhammer:

David Klinkhammer ist mit seinem Hintergrund als Sportwissenschaftler (B.A.), Fitness- und Athletiktrainer sowie Ernährungsberater Tutor & Dozent an der Deutschen Sportakademie. Hier betreut & begeistert er die Studenten zu Themen wie Trainingsplanung- und Steuerung, Fitnesstraining in der Praxis, zielgruppenspezifische Trainingsplanung im Cardiotraining und Motivationstraining im Personal Training.

Als leidenschaftlicher Sportler und selbstständiger Fitnesstrainer bietet er Bootcamps und Athletiktrainings in Köln an. Abschalten kann er am besten beim Kochen, bei dem er seine kulinarische Inspiration überwiegend von den vielen Reisen durch Europa und Asien hernimmt.

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